Karl war auch schon da. Vivawestmarathon in Gelsenkirchen

Oder: abgeka..t im Pott.

Oder: 42 km bis  zur Demut.

Wo Karl schon war, muss Otto auch hin. So ist das. Es traf sich gut, dass eine vierköpfige Mädelsgruppe vom Team ebenfalls die Reise in den Ruhrpott geplant hatte, um Halbmarathon zu laufen. Betreute Wochenendtour mit Harem, Herz, was willst du mehr! Katastrophenmeldungen trudeln ein: drei Damen sind verletzt, können nicht laufen, wollen aber dabei sein: als Reiseleiterin, als Chauffeuse, als jubilierende Jublerin. Martina Kunze ist heil geblieben und wird den Halbmarathon laufen.

Laufen im Pott bedeutet laufen auf den Spuren einer verschwindenden Industriekultur. Los geht es am Musiktheater in Gelsenkirche. In Altenessen Süd führt der Lauf durch das Weltkulturerbe Zeche Zollverein. Hier fährt kein Kumpel mehr ein. Ein Rentner in Steigerausgehuniform begrüßt die Sportler mit Glück auf. Die Gebäude der Zeche dienen als Museum und Eventlocation. Weiter geht es durch erstaunlich viel Grün nach Altenessen Nord, wo die Zeche Nordstern durchlaufen wird. Hier trennen sich die Wege des Halbmarathons und des Marathons. Die Marathonies laufen nach Gladbeck und Bottrop, wo das letzte Bergwerk, das im Ruhrgebiet noch in Betrieb ist, die Zeche Prosper Haniel, durchlaufen wird. Ein emotionaler Höhepunkt des Laufs. Hier stehen die Kumpels in ihren Arbeitsklamotten und applaudieren den Läufern. Das Glück auf klingt noch authentisch.

Ich habe mir  für den Marathon ambitionierte Ziele gesteckt, möchte die 3:40 knacken, bevor das Alter sein Recht fordert. Habe trainiert, fühle mich gut, will die Strecke nach dem Greif’schen Laufplan, den ich mir auf den Unterarm geklebt habe, angehen: 15 km gemütlich in 5:12er Pace, 10km forciert in 5:03er Pace, den Rest in 5:08er Pace. Das ergäbe 3:37, womit ich mit etwas Luftnach oben glücklich und zufrieden wäre.

Der Startschuß fällt etwas verspätet. Die Strecke muss noch von Fahrzeugen geräumt werden, die widerrechtlich parken. Das Warten lässt das Adrenalin ansteigen und der Pulk legt los, als gelte es einen 10er zu laufen. In Gelsenkirchen ist um 9:30 tote Hose, kaum jemand auf der Gass. Nach einem km zeigen unsere drei invaliden Drachenmädels den Westfalen, wie man Läufer anfeuert! Der Adrenalinpegel steigt noch mal. Der Blick auf die Laufuhr lässt mich auf die Bremse treten: Pace unter 5:00, das kann so nicht gut gehen! Aber es scheint mir schwierig, die geforderten 5:12 zu laufen, zumal wir jetzt nach Essen kommen, wo sich die Bevölkerung mehr gehen lässt als in Gelsenkirchen. Sind wir etwa schon im Rheinland? Bevor wir zur Zeche Zollverein kommen, laufe ich auf einen weißhaarigen Veteranen auf. Er fragt, ob ich auch M 70 sei. Hey, sieht man es mir schon an? Das Selbstbewusstsein bröckelt. „Da ist noch einer aus unserer AK, aber der ist schon weit vorne“. Selbstbewusstsein bröckelt weiter. Wir laufen eine Weile zusammen. Er peilt die 3:45 an; ich will schneller und obwohl wir jetzt die vorgesehene Pace laufen, lege ich wieder einen Zahn zu. Die Uhr verhält sich wie eine verführerische Dame: „komm, ich zeige dir das Paradies! Du bist 2 Minuten im Plus, du fühlst dich fit wie deine Laufschuhe, und wenn du so weiterläufst, biete ich dir den Lauf deines Lebens, vielleicht gar in 3:35!“ Mit dem Niedergang der Bergbauindustrie scheint ein Boom der Altenpflegeeinrichtungen einher gegangen zu sein. Alle paar km kommen wir an Altersheimen vorbei. Man hat die Bewohner an der Strecke in die Sonne gesetzt, einige haben auf den Campingtischen Sektflaschen stehen. Unsere begeistertsten Fans! Da muss man ihnen zu Ehren schon mal einen kurzen Sprint einlegen und sobald man die Knie etwas anhebt, macht die Paceanzeige wieder einen Ausschlag in die verbotene Zone. Ein wohl gleichaltriger Mann mit grauem Gesicht sitzt im Rollstuhl an der Straßenecke und klatscht die aufblasbaren Jubelelemente begeistert aufeinander. Ein wahrer Sportfan! Ich verspreche ihm, für ihn mit zu laufen, Mist – die Pace wurde schon wieder schneller. Ich laufe jetzt auf einen Läufer mit dem Rennsteig- 2017- Trikot auf. Andreas aus Bochum ist am Vortag die lange Strecke nach Schmiedefeld gelaufen und legt jetzt noch einen Marathon drauf! Leute gibt’s!  Beim Halbmarathon zeigt die Uhr eine Zeit von 1:47 an und die Hybris in meinem Kopf säuselt “ selbst, wenn du keinen negativen Split läufst, liegst du auf einem Zielzeitenkurs von 3:34!“ In Bottrop laufen wir auf einer Pendelstrecke und die ersten Läufer kommen uns in einer 8-köpfigen Führungsgruppe entgegen. Es dauert gar nicht mehr so lange, bis wir nach der Durchquerung von Prosper Haniel die langsameren Läufer auf Gegenkurs haben. Einige Kilometer weiter steigt die Strecke gemächlich an. Komisch, vorhin auf dem Gegenkurs habe ich gar nicht bemerkt, dass es bergab gegangen ist. Oder gibt es die Steigung nur in meinem Kopf? Die Pace ist plötzlich auf 6:00 gesunken. Das muss geändert werden. Laut Plan wären 5:08 angesagt. Ich versuche zu beschleunigen aber mehr als 5:40 ist nicht drin. Die Steigung der Strecke (in meinem Kopf) lässt nicht mehr zu. Wenn das so weiter geht werde ich auf 3 km eine Minute verlieren und im Nu ist mein Traum geplatzt. Etwa bei km 35 kommt die erste Demütigung. Mein AK-Kollege von vorhin zieht an mir vorbei. Er wirkt nicht mehr frisch, geht ein paar Meter, läuft wieder, bleibt vor mir. Kurz darauf kommt Demütigung No 2 : der Pacemaker für 3:45 läuft mit seiner Gruppe an mir vorbei und – nach kurzem Aufbäumen muss ich ihn ziehen lassen. Mein Zielzeitenwunsch zerstiebt. Ich werde die 3:40 nicht unterbieten können, also wofür dann noch die Begegnung mit dem Hammermann riskieren? Ich laufe gemütlich weiter, versorge einen Läufer, der mit Wadenkrämpfen am Wegrand sitzt mit einer Kochsalztablette und will nur noch in gutem Zustand durch das Ziel laufen. Unsere Jubilantinnen stehen 500 Meter vor dem Ziel, da muss man noch mal bella Figura zeigen. Zeit ist futsch. 3:45:35, Platz 211 Gesamt von 1158 Marathonies, Platz 198 bei den Männern und Platz 3 der AK70. Der erste AK 70-Läufer Jürgen Graeber, LAC Langenhagen ist 3:35:49 gelaufen und der Zweite Erhard Kämper, MC Menden kam nach 3:44:18 ins Ziel. Ich habe auch gewonnen: eine gehörige Portion Demut!

Als ich ins Ziel kam war Martina bereits zurück. Der Halbmarathon war eine Stunde nach dem Marathon gestartet worden. Sie hat gekämpft und eine Punktlandung hin gelegt: 1:59:54, 26. der AK 50, 258. von 1253 Frauen! Was unser Fanclub in der Zwischenzeit im Ruhrgebiet getrieben hat? Ich weiß es nicht. Es gibt ein Fotodokument, das sie mit einem putzigen Zwerg zeigt. Offenbar hatten auch sie ihren Spaß.

Fazit: gut organisierte Veranstaltung. 1158 Marathonies, 3814 Halbmarathonies, 636 Staffeln, 1517 10 km-Läufer, 1946 Schüler und Schülerinnen beim Evonik Lauf. Gute Streckenverpflegung alle 3 km mit engagierten Helfern: Erfrischungsschwämme, Wasser, Iso, auf der 2. Streckenhälfte Bananen, Cola. Streckenführung: interessanteStrecke durch das Ruhrgebiet mit vielen grünen Abschnitten. Stimmung am Strassenrand: ausbaufähig, hätte mir von den Ruhries mehr erwartet. Verpflegung im Ziel: lange Verpflegungsstrecke mit Getränken, Kuchen, Riegeln, Weizenbier. Positiv: keine Hektik, genügend Raum, um sich die Krämpfe auzuschütteln. Man konnte auch nach dem Duschen (frisches Wasser) die Zielverpflegung wieder aufsuchen. Auffällig: ich habe mit einigen Läufern gesprochen, die kaputt aussahen. Alle beklagten sich über die bergige Strecke. Da es hier keine Berge gibt, müssen sie die gleichen Halluzinationen wie ich gehabt haben. Aber als Ausrede für die verbockte Zeit sind die Berge allemal willkommen.

Die verletzten Mädels wollen im nächsten Jahr unbeding in Gelsenkirchen ihren Lauf nachholen. Ich kann nur empfehlen, sie zu begleiten.