Paris-Roubaix: ein Tag in der Hölle des Nordens
Roubaix, Frankreich – Ostern 2023, von Julian Schepp
Geschichte und Hintergrund
„Die Hölle des Nordens“. So bezeichnen die Profis das Traditionsradrennen Paris-Roubaix. Seit 1896 wird das Radrennen im Norden von Frankreich, nahe Flandern, ausgetragen. Bevor die Radprofis die großen Rundfahrten, wie die Giro ´d Italia oder die Tour de France in Angriff nehmen, stehen mehrere Tagesrennen, die sogenannten Klassiker, in Belgien, den Niederlanden, und Nordfrankreich im Rennkalender. Paris-Roubaix trägt auch den royalen Beinamen „Königin der Klassiker“, denn dieses Rennen zeichnet sich durch die besondere Bedeutung und Härte aus. 250 KM Länge, davon 54,5 KM Kopfsteinpflaster, verteilt auf 29 Abschnitten, machen das Rennen zu einer großen Tortur für Material, Körper und Psyche. 2015 gewann der Wahlfrankfurter Radprofi John „Dege“ Degenkolb im Velodrom zu Roubaix als zweiter Deutscher das Radsportmonument.
Es folgt Julians Bericht zum Rennwochenende in Roubaix.
Bucket List
„Einmal so wie Dege über die Kopfsteinpflaster brettern, das wäre was“ dachte ich mir 2015, als ich das Radrennen im TV verfolgte. Das Rennen landete auf meiner Bucket List auf der Dinge stehen, die man Leben einmal getan haben sollte. Seitdem löst der Eintrag Paris-Roubaix sowohl Respekt als auch ein wenig Angst aus. Ähnliche Gefühle habe ich auch, wenn ich mir meinen Wunschtauchgang im Käfig mit einem Weißen Hai vorstelle.
Dieses Jahr wollte ich mich komplett dem Radsport widmen und mir unter anderem mit der Teilnahme an der L‘ Étape de Tour, dem Amateurrennen im Rahmen der Tour de France, einen Traum erfüllen. Durch die Vorbereitung auf die L‘ Étape de Tour bot sich die Einplanung des Amateurrennens in Roubaix an. Ich brauchte jedoch ganze zwei Wochen, bis ich mich schlussendlich anmeldete. Der Termin stand nun fest: Ostersamstag, der 08. April 2023.
Paris-Roubaix Challenge
Das Amateurrennen, die Paris-Roubaix Challenge wird in Form einer RTF (Rad-Tourenfahrt) am gleichen Wochenende wie das Profirennen ausgetragen. Der Veranstalter möchte das Risiko für die Teilnehmenden durch Eliminierung der Ambition und Entzerrung des Feldes so gering wie möglich halten. So wird auf einen Massenstart und sogar eine Platzierung verzichtet. Drei Distanzen werden angeboten. Zwei Rundkurse von je 70 KM und 145 KM. Die 170 KM lange Strecke ist identisch mit der Profistrecke und startet in Busigny kurz vor der ersten Kopfsteinpflasterpassage. Nach spektakulären Kopfsteinpflasterpassagen wie dem Carrefour de l’Arbre und der Trouée d’Arenberg endet das Rennen mit der Zieleinfahrt im legendären Velodrom in Roubaix.
Training, Vorbereitung und Anreise
Groß war die Panik nach der Anmeldung, so kann man es schon bezeichnen. Ein solches Gefühl hatte ich seit der Vorbereitung auf den IRONMAN in Nizza im Jahr 2017 nicht mehr. Nun galt es Mensch, Material und Kopf vorzubereiten. Mensch war weniger das Problem. Trainingsplanung kann ich und die Panik trieb mich sogar morgens früh vor der Arbeit auf der Rolle. So wurde ich gut fit, wenn natürlich auch bedingt durch die zwei Kinder einige Trainingseinheiten umgestaltet oder weglassen werden mussten. Auch war das Wetter alles andere als optimal für lange Einheiten vor Roubaix. Das ist aber Teil der Challenge. Schwieriger war die Materialfrage. Ich fühlte mich wie in meinen Anfängen beim Triathlon. Welche Laufräder? Welche Bereifung? Doppeltes Lenkerband? Hält das alles auch den Vibrationen, Schlägen und ggf. einem Sturz stand? Ich entschied mich für ein Setup und fand mich in der Vorbereitung mit dem Rennrad auf Schotter- und Mountainbikewegen wieder. Für die mentale Vorbereitung las ich verschiedene Berichte, fuhr die Strecke digital ab und versuchte mich sogar mental mit Materialbruch oder Sturz zu beschäftigen. Ich fühlte mich gut vorbereitet, jedoch die Nervosität blieb. Schließlich zeigte sich die Rennwoche am Horizont und dann: Schnupfen! Typisch, mit zwei Kindern bekommt man die Seuche immer, wenn es nicht passt. Anstatt mich final verrückt zu machen, zog ich alle Register, um ohne Medikamente fit an der Startlinie zu stehen. Lediglich eine kurze Einheit zum Aufwecken der Beine war drin.
Die Anreise war, na ja, recht nass. Ich schaute durch den Rückspiegel zu, wie das arme Rad auf dem Träger schon ordentlich geduscht wurde. „Na, das kann ja was werden“, dachte ich bei mir. In Roubaix angekommen, holten wir sofort am Velodrom die Startunterlagen ab. Alles war schlammig und nass. Einige Radfahrer testeten die Strecke und sahen auch dementsprechend aus. Ich bereitete im Hotel nur noch das Rad vor und legte meine Sachen zurecht. Noch einmal in die Motivationsplayliste reinhören, Augen zu und ein letztes Mal den autosuggestiven Satz sagen: „das wird ein top Rennen, freu dich darauf.“
Ein Tag in der Hölle des Nordens – Der Rennbericht
3:45 Uhr. Der Wecker klingelt. Die gleiche Uhrzeit wie bei jedem IRONMAN seit meinem ersten in Frankfurt. Als Sportler braucht man Rituale, kleine Glücksbringer, die einen pushen. Ich ziehe mich an, futtere die vorbereite Box Haferflocken, verabschiede mich von Jessi und steige aufs Rad. Roubaix schläft um die Uhrzeit tief und fest und so pedalieren ich allein durch die Stadt zum Shuttlebus. Auf einem Parkplatz stehen knapp 20 Reisebusse und fünf Rad-Transport-LKW für die knapp ca. 1500 Mutigen für die 170 KM Strecke bereit. Insgesamt sind an dem Tag knapp 6000 Personen auf allen Strecken gemeldet. Nur ca. 4800 werden an diesem Tag das Ziel erreichen.
Die Stimmung unter den Teilnehmenden ist sehr besonders. Zwar dominieren die Briten, Franzosen und Belgier, aber selbst Japaner sind im Bus zu finden. Es herrscht die gleiche Anspannung und Vorfreude, die ich eigentlich nur von den Triathlon-Langdistanzen kenne; die Erwartung, dass es ein harter und langer Tag wird und die Gewissheit, dass ich heute an meine Grenze kommen werde. Es folgt der Tipp von meinem Sitznachbarn: „mach langsam auf dem Asphalt, du brauchst die ganze Kraft auf dem Pflaster, das knallt rein wie ein Schmiedehammer! Kraft und Geschwindigkeit sind da entscheidend. „Puh“, ich mache nochmal die Augen zu und sammle meine Kräfte.
Angekommen in Busigny fahre ich auch zügig los. Gestartet werden kann jederzeit innerhalb eines Zeitfensters. Es sind 4° Celsius und die Luft ist frisch. Kein Regen. Auch der Boden ist über Nacht ein wenig abgetrocknet. Ich bin unendlich erleichtert und rolle los. Es läuft gut, der Druck auf dem Pedal stimmt, ich fühle mich gut und habe freue mich auf das was mich erwartet. Nach einem kleinen Einrollen kommt der erste Bogen, der die erste Kopfsteinpflasterpassage ankündigt: 29, 3*, Orange. Ich freue mich, dafür bin ich hier, deswegen habe ich mich angemeldet. Ich weiß nicht, was ich mir unter Kopfsteinpflaster vorstellt habe, aber das Wetzlarer Altstadtpflaster fällt bei mir ab jetzt unter die Kategorie Autobahnasphalt. Auf den ersten Passagen teste ich was geht und achte auf die, die gut durchkommen und auf ihre Fahrtechnik. Ich finde meinen Rhythmus und komme vorerst gut voran.
Alle Kopfsteinpflasterpassagen sind je nach Anspruch und Länge mit 1* bis 5*, sowie farblich gekennzeichnet. Auf dem Haveluy á Wallers, einem grünen 4* Abschnitt bei Kilometer 70, zeigt sich zum ersten mal die volle Härte des Rennens. Dieser Abschnitt tut richtig weh und raubt viel Kraft. Er wird von den Profis als der Hammer bezeichnet. Was danach folgt, ist der Amboss: der Trouée d’Arenberg, der erste schwarze, 5* Abschnitt. Ich fahre mit fast 40 Km/h auf das Kopfsteinpflaster und habe das Gefühl, meine Handgelenke brechen. Die Oberarme schreien. Nach der Hälfte geht mir die Kraft aus und mit jedem Km/h den ich langsamer werde, werden die Erschütterungen stärker, ein Teufelskreis in der Hölle des Nordens. Ich quäle mich durch und erreiche den Abschluss des Sektors. Hier stehen Radfahrer mit Defekten oder einfach nur zum Verschnaufen.
Ich fahre weiter. Ab jetzt mutiert die schöne RTF mit Kopfsteinpflaster zur knüppelharten Challenge. Ab hier sind es noch 18 Sektoren, über 30 KM Kopfsteinpflaster und mehr als 95 KM zu fahren. Vor jeder Passage sammele ich mich, atme tief durch und bereite mich vor. Meine Handgelenke wimmern vor Schmerz, aber loslassen auf dem Pflaster ist keine Option. Ich fange an, nur noch von Sektor bis Sektor zu denken. Ich teile das Rennen in Abschnitte und hake diese ab. Am Mons-en-Pevele (KM 122), dem zweiten schwarzen 5* -Sektor mit 3000m Kopfsteinpflaster, habe ich zwischendurch Tränen in den Augen. Aber der Lichtblick wartet am Ende des Sektors: Jessi mit den Mädels. Meine persönliche Fangruppe hebt die Stimmung gewaltig und hilft mir nochmal, alle Kraft für den Rest zu sammeln.
Zwischen den Sektoren läuft es sehr gut und der Ernährungsplan geht auf. Jedoch ist jedes Kopfsteinpflastersegment die Hölle. Auf den letzten zwei Stunden stehen viele Fans an der Seite und feuern alle Teilnehmenden an. Das Frauen-Profirennen läuft parallel an und man muss sich beeilen, um ins Velodrom einfahren zu dürfen. Endlich sehe ich das Ortsschild von Roubaix. Ich fliege in den Ort. Die letzte Sektion ist direkt vor dem Velodrom. Das Pflaster ist wie in Wetzlar, kein Vergleich zu dem was vorher war. Die Einfahrt im Velodrom ist unbeschreiblich. Geschafft! Kein Defekt, kein Sturz, zufrieden mit der Leistung und eine Menge Zuschauer, die laut jubeln. Ich fühle mich wie Dege nach seinem großen Sieg.
Zeit im Ziel: 06:04:57 für die 170 KM mit 54,5 KM Kopfsteinpflaster. Was bleibt ist ein höllischer Muskelkater in den Händen und das gleiche Gefühl wie nach einer Triathlon-Langdistanz. Man flucht, hat Schmerzen, Blessuren, hat sich gequält, gelitten, sich die „Warum“-Frage gestellt, man ist aber auch stolz auf seine Leistung und das Erreichte und schaut sich zwei Tage später schon wieder nach der nächsten großen Herausforderung um.
Afterrace-Programm: Profirennen
Was macht man eigentlich nach dem Rennen? Man schnappt sich ein hervorragendes belgisches Bier und schaut das Profi-Frauenrennen. Am nächsten Morgen folgt das nächste Highlight: das Herren-Profirennen. Der Zeitplan ist super familienkompatibel. Wir frühstücken gemütlich und fahren zum Trouée d’Arenberg. Hier ist man im Herzen des Radsports. Die Stimmung ist wie auf einem Volksfest. Es gibt überall Fritten, Bier, die Menschen singen und sind heiter. Dann kommen die Profis. Unfassbar, mit was für einer Geschwindigkeit diese über die Sektionen fahren. Wir springen ins Auto und fahren nach Roubaix. Hier haben wir VIP-Plätze auf dem Rasen des Velodroms. Es gibt große Leinwände und wieder Fritten und Bier. An diesem Tag mit Kaiserwetter siegt nach einem spektakulären Rennen Mathieu van der Poel vor Christophe Laporte und Wout van Aert. John „Dege“ Degenkolb ist bis zu einem Sturz kurz vor Roubaix in der Führungsgruppe und wird am Ende starker Siebter.
Ich bin froh, dass ich es ohne Sturz ins Ziel geschafft habe. Wir feuern jeden Profi an, der das Velodrom erreicht und schauen die Siegerehrung. Die drei Besten bekommen je einen Pflasterstein. Van der Poel bekommt den Größten. Ich frage mich aber insgeheim, ob Van Aerts Pflasterstein nicht der gleiche ist wie meiner. Denn auch ich nehme die begehrte Trophäe bestehend aus einem originalen Kopfsteinpflasterstein der gefürchteten Sektionen der Hölle des Nordens als Erinnerung mit nach Hause.
Beitragsbild: Pflastersein, Medaille und die dreckige Startnummer. Die Trophäen des Rennens
Alle Bilder von Privat – 2023, Julian Schepp